Das gute Leben und die Spiritualität

Kanzelpredigt von P. Bruno Niederbacher SJ, Lange Nacht der Kirchen 2025

Symbol

Ist die Kanzel ein guter Ort zu predigen? Manche werden sagen: Eher nicht. Wer auf der Kanzel predigt, redet von oben herab. Heutzutage wollen wir uns aber auf Augenhöhe begegnen. Zudem sind die Predigten von der Kanzel vielleicht in schlechter Erinnerung. Wurden einem da nicht die Leviten gelesen? Wurde man da nicht oft gerügt? Das Wort „abkanzeln" gibt noch heute Zeugnis davon. Wir wollen nicht abgekanzelt werden.

Andererseits ist die Kanzel gar nicht so schlecht. Erstens kann ich mich schnell verschanzen, wenn Sie mit Tomaten und Eiern auf mich werfen. Zweitens ist die Kanzel akustisch raffiniert positioniert. 340 Jahre lang wurde in dieser Kirche ohne Mikrophon gepredigt. Es muss also gehen. Probieren wir es aus! Ich schalte mein Mikrophon aus, und Sie geben mir Zeichen, wenn Sie mich nicht mehr verstehen. Bitte heben Sie dann die Hand! Ich beginne mit den ersten Zeilen eines Gedichts von Rainer Maria Rilke (Sonette an Orpheus, 2, XXIX):

Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.

Nun flüstere ich. Mal sehen, wie das ankommt:

Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.

Haben Sie mich verstanden?

Ohne Mikrophon zu predigen kann auch einen anderen Vorteil haben. Ein Jesuit pflegte in St. Michael in München stets auf der Kanzel zu predigen. Er war einer der bekanntesten Prediger dort. Einmal hatte er den Eindruck, dass ihm seine Predigt nicht sonderlich gut gelungen sei. Auf dem Rückweg von der Kanzel, der im inneren Gemäuer der Kirche verlief, ließ er seinem Frust freien Lauf und sagte „Schei...". Aber er hatte vergessen, sein angestecktes Mikrophon auszuschalten. So tönte der Kraftausdruck aus allen Lautsprechern der Kirche.

Nun aber zurück zu meinem Gedicht:

Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt...

... fühle, wie dein Atem noch den Raum vermehrt. Das bringt mich zu meinem Thema: Das gute Leben und die Spiritualität. Ich war im letzten Jahr in den USA, in Washington D.C. Dort habe ich Vorlesungen gehalten über Theologie und das gute Leben. Dabei bin ich auf Laurie Santos aufmerksam geworden, eine Professorin für Psychologie an der Yale University. Sie unterrichtet Tausende von Menschen, wie man ein gutes Leben lebt. Man kann ihre Vorträge leicht im Internet finden. Sie spricht von der „Science of Well-Being", der Wissenschaft des Wohlergehens. Wie kann ich ein glücklicheres, erfüllteres Leben führen? Santos gibt dazu eine Reihe von Tipps, die sie durch empirische Forschung stützt. Einer davon lautet:

Lebe in der Gegenwart! Verkoste den Augenblick! Tu das, was du gerade tust, mit voller Aufmerksamkeit. Und sie empfiehlt als eine Möglichkeit, diese Achtsamkeit zu üben, das Atmen wahrzunehmen. Das können wir gleich ausprobieren!

Ich beginne diese Übung, indem ich die Augen schließe. Ich werde mir bewusst, wie ich heute Abend da bin... Ich werde mir der Empfindungen in verschiedenen Teilen deines Körpers bewusst... Dann werde ich mir meines Atems bewusst. Ich spüre die Luft, wie sie durch die Nasenlöcher ein- und ausströmt... Ich kontrolliere meinen Atem nicht. Ich beobachte einfach, wie es in mir atmet. Wenn ich abschweife, kehre ich zu meiner Aufgabe zurück. Ich versuche, keinen Atemzug zu verpassen... Ich atme ein... ich atme aus...
(Siehe: Anthony de Mello, 1984: Meditieren mit Leib und Seele. Kavelaer, 34-35)
Jeden Tag 10 Minuten diese einfache Übung: Dies hilft, sich glücklicher zu fühlen. Aber was hat es mit Spiritualität zu tun? Nun, mir fällt der zweite Schöpfungsbericht aus der Bibel ein. Dort heißt es:

Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. (Gen 2,7)

Da wird eine unglaubliche Nähe zu Gott ausgedrückt. Wir können also die Aufmerksamkeit auf den Atem mit diesem Bild verbinden. Wir können dabei auf ganz einfache Weise bei Gott sein, bei ihm verweilen, aufatmen, unser Belebt-Werden spüren.

Was wir tun ganz tun: Auch dafür gibt es einen Bezug zu unserer Spiritualität:

Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig.
Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. (Dtn 6,4-5)

Jesus nennt dies das wichtigste Gebot (Lk 10,17). Es betrifft hier die Beziehung zu Gott. Ich wende es aber auch auf anderes an: Tu das, was du zu tun hast, mit ganzer Seele, ganzem Herzen, ganzer Kraft!

Was nennt Santos sonst noch? Unter ihren Bemerkungen befindet sich auch diese: Die Lebensumstände sind für das Glücklichsein weniger wichtig als wir meinen. Wir glauben, dass unsere Lebensumstände sehr wichtig für unser Glück sind: wo wir wohnen, welchen Job wir haben, wie viel wir verdienen, dass alles passt. Die Forschung zeige aber: Die Lebensumstände sind weniger wichtig, als wir denken. Santos nennt zwei Beispiele:
• Menschen, die im Lotto gewonnen haben. Sie sind zunächst glücklicher, aber sechs Monate später sind sie nicht glücklicher als andere Menschen.
• Menschen, die einen Unfall hatten und in einem Rollstuhl landeten sind zunächst schockiert, aber ein halbes Jahr später beginnen sie ihre Situation anzunehmen, und können ihr Leben nachher wertvoller als vorher finden.

Hier ist ein extremes Beispiel: Etty Hillesum, die bekannte Jüdin aus Holland, die die Verfolgung durch die Nazis erlebt und erlitten hat, schreibt 1942 in ihr Tagebuch:

Nach den letzten Nachrichten sollen alle Juden aus Holland deportiert werden, über Drenthe nach Polen. Und der englische Sender berichtete, dass seit dem vergangenen Jahr 700 000 Juden in Deutschland und in den besetzten Gebieten umgekommen sind. Und falls wir am Leben bleiben, sind das ebensoviele Wunden, an denen wir unser ganzes Leben lang tragen müssen. Und dennoch halte ich das Leben nicht für sinnlos, Gott, ich kann mir nicht helfen. Gott ist uns auch keine Rechenschaft schuldig für die Sinnlosigkeit, die wir selbst anrichten. Wir sind Rechenschaft schuldig! Ich bin schon tausend Tode in tausend Konzentrationslagern gestorben. Ich weiß über alles Bescheid und neue Nachrichten beunruhigen mich nicht mehr. Auf eine oder andere Art ist mir alles bewusst. Und doch finde ich das Leben schön und sinnvoll. Jede einzelne Minute. (29. Juni 1942)

Klar, niemand von uns wünscht sich so ein Leben. Und doch zeigen solche Beispiele etwas: Auch unter widrigsten Umständen können Menschen ihr Leben schön und sinnvoll finden.
Dies hat ebenfalls eine spirituelle Dimension. X-mal heißt es in der Bibel, dass Gott bei uns ist. Sein Name ist geradezu: Ich bin da. In Jesus, dem Emmanuel, wird dieser Name, dieses Wort Fleisch: Gott mit uns.

Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir. (Jes 43,1)
Wenn du durchs Wasser schreitest, bin ich bei dir, wenn durch Ströme, dann reißen sie dich nicht fort. (Jes 43,3)
Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir. (Jes 43,5)
Muss ich auch wandern im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil: Du bist bei mir. (Ps 23,4)

Ein anderer Rat von Santos lautet: Hilf anderen! Anderen zu helfen ist nicht nur für die anderen gut. Anderen zu helfen tut auch uns gut. Tests haben gezeigt: Glückliche Menschen bringen Zeit und Geld auf, um anderen zu helfen. Dabei kommt es nicht auf die Größe des Betrags an. Dazu gesellt sich ein anderer Rat: Gib nicht Zeit aus, um mehr Geld zu haben, sondern gib lieber Geld aus, um mehr Zeit zu haben!

Wir haben viele Möglichkeiten, anderen zu helfen. Und es braucht gar nicht weiter belegt zu werden, dass unsere christliche Spiritualität die Nächstenliebe und die Werke der Barmherzigkeit ganz groß schreibt.

Hier ist noch ein Rat: Nimm dir jeden Tag Zeit für Dankbarkeit! Ich neige dazu, an Schwierigkeiten und Probleme zu denken, an Dinge, die mich beunruhigen und ärgern. Darum kreise ich dann, und es wird immer finsterer in mir. Santos empfiehlt dagegen: Werde dir lieber täglich der Dinge bewusst, die dir Freude bereitet haben.
Auch dafür gibt es X Beispiele aus der Heiligen Schrift. So heißt es im Psalm 103:

Lobe den Herrn, meine Seele,
und alles in mir seinen heiligen Namen!
Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. (Ps 103,1-2)

Dazu kommt noch etwas: Nimm dir täglich Zeit für Dankbarkeit und drücke sie aus, teile sie mit anderen! Teile sie mit anderen: mit Freunden, mit der Familie, mit Gott...! Im Ausdruck des Danks kommt die Dankbarkeit erst zur Vollendung.

Üblicherweise bleibe ich an Erfahrungen hängen, die mich traurig stimmen, die mich aufregen und wütend machen, und häufig rede ich gerade darüber mit anderen. Aber das tut mir nicht gut. Dagegen lautet das Motto: Das Gute sehen lernen und darüber mit anderen reden.

Martin Seligman, Psychologe am Zentrum für Positive Psychologie an der Universität von Pennsylvania, ist mit seinen Büchern über das Glück berühmt geworden. Er führte verschiedene Tests durch. Eine Gruppe von Leuten erhielt die Aufgabe, sich an erfreuliche Erlebnisse zu erinnern und einen Dankesbrief an jemanden zu schreiben, dem sie noch nie richtig gedankt hatten, und diesen Brief persönlich zu überbringen. Die Teilnehmer erlebten dabei einen enormen Anstieg ihrer Glückswerte. Nicht nur im Augenblick erlebten sie sich glücklicher, sondern das gute Gefühl hielt lange an.

Robert Emmons hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Gratitude Works, Dankbarkeit funktioniert. Darin befindet sich eine berührende Geschichte über den ehemaligen Generalarzt C. Everett Koop. Als junger Kinderarzt erhielt er eines Tages einen Anruf aus einem nahegelegenen Krankenhaus: „Ein neugeborenes Kind liegt im Sterben. Komm schnell!" Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit fuhr er dorthin. Er rannte hinauf in den neunten Stock. Als er das Baby auf den Tisch legte, war der kleine Junge bereits blau und leblos. Es war kaum Zeit für Sterilisierungsmaßnahmen. Er öffnete den Brustkorb des Jungen und massierte sein winziges Herz mit dem Finger, bis es zu schlagen begann. Dann beendete der Arzt die Operation. Jahre später führte seine Sekretärin einen 1,80 Meter großen, kräftigen jungen Mann ins Büro. „Mein Vater dachte, Sie würden mich gerne kennenlernen", sagte er der junge Mann zum Arzt. „Sie haben mich operiert, als ich fünfundfünfzig Minuten alt war." Der Arzt war überwältigt, ging um den Schreibtisch herum und umarmte ihn. (Robert Emmons, 2013: Gratitude Works, 73)

Dankbarkeit funktioniert. Die Kirche praktiziert dies seit 2000 Jahren. Jeden Sonntag versammelt sie sich zur Eucharistiefeier, wörtlich übersetzt: zur Danksagung. Wenn wir zur sonntäglichen Eucharistiefeier gehen, verbinden wir vieles von dem, was Santos uns da erzählt: Wir werden am Beginn ruhig, wir spüren den Atem, wir werden an viele erfreuliche Dinge erinnert: dass wir aus Liebe geschaffen und erlöst sind, wir denken an die vielen guten Dinge, die wir geschenkt bekommen haben. Wir drücken unseren Dank aus in Liedern und Gebeten, wir beten für andere, wir sammeln für andere, wir verpflichten uns, Menschen in Not zu helfen... Wir treffen auch andere Menschen, knüpfen Kontakte, pflegen Beziehungen, begeben uns in Gesellschaft... anstelle alleine herumzusitzen (das tut uns auf Dauer nicht gut) – auch dies entspricht einem Rat von Santos, dessen Befolgung mehr Glück verspricht.

Laurie Santos gibt Tipps, wie man glücklicher werden kann. Sie konzentrieren sich auf das, was wir tun können. Und sie will sagen: Wir können etwas tun! Aber wissen darüber reicht nicht. Man muss es wirklich täglich tun!

Ich möchte nun aber auf etwas zu sprechen kommen, das wir nicht tun oder machen können, sondern etwas Passiveres, etwas, das ein Geschenk ist und nur ein Geschenk sein kann. Es ist die Erfahrung, geliebt zu werden: von Eltern, Geschwistern, Freunden, Freundinnen, Ehefrau, Ehemann, Partnern...
Das Christentum mit seiner Lehre von der Schöpfung und Gnade sagt in seinem Kern: Du bist unendlich geliebt.

Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt. (Jer 31, 3)
Darin besteht die Liebe: Nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat. (1 Joh 4, 10)

Diese Erfahrung, geliebt zu sein, bringt das Beste in uns Menschen zum Vorschein. Wir sind dann besser in der Lage, ebenfalls zu lieben, wir erfahren Freude, Friede und Dankbarkeit. Das Bewusstsein, dass wir unendlich geliebt sind, ist die beste Grundlage allen Glücks und aller Nächstenliebe.

Abschließend möchte ich eine Übung anleiten, die uns von Ignatius von Loyola, dem Gründer des Jesuitenordens geschenkt ist. Man nennt sie das „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit".

Ich schließe die Augen, lehne mich zurück, und werde mir bewusst, wie ich da bin. Ich spüre den Atem. Ich atme ein, ich atme aus...
Dann werde ich mir bewusst, dass Gott da ist, so selbstverständlich wie die Luft, die ich atme und durch die ich lebe...
Und ich sage: Gott, du bist gut. Immer bist du da. In dir lebe ich, bewege ich mich, bin ich. Lasse mich mit dir den Tag betrachten, der hinter mir liegt: Lass mich besonders die guten Dinge sehen. Was war heute erfreulich für mich? Was hat mir Freude bereitet? Eine Begegnung mit jemandem, ein Kompliment... Ich bleibe bei solchen Momenten und genieße sie noch einmal. Ich nehme mir kurz Zeit dafür...

Wenn ich nun Dankbarkeit spüre, drücke ich sie aus. Danke, Danke Danke! Vielleicht möchte ich auch einem Menschen danken, ihm einen Brief schreiben... Auch eine Notiz im Tagebuch ist hilfreich.

Bleibt mir noch, mich bei Ihnen zu bedanken, fürs Zuhören, fürs Interesse. Ich hoffe, es war etwas für Sie dabei, vielleicht eine Anregung, die Sie ausprobieren wollen.


P. Bruno Niederbacher SJ

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