"Viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, um sie wegen ihres Bruders zu trösten" (Joh 11,19).
Die Trauer ist ein Schlüsselmoment des Lebens. Sie ist schwer, sie schmerzt, aber in ihr wird uns auch die Bedeutung von Beziehungen bewusst. Je tiefer die Trauer, umso tiefer die Bedeutung des verlorenen Menschen. Vorgestern hat der Kreis meiner Jugendfreunde Abschied genommen von einem Kollegen, der in seiner Traurigkeit gestorben ist, die er mit Wein und Wodka zu ertränken versuchte. Wir wussten zwar, dass seine Suchterkrankung ein gefährliches Stadium erreicht hatte; viele kümmerten sich um ihn, fühlten sich hilflos. Eigentlich gab es hoffnungsvolle Zeichen in diesem Sommer, und niemand hätte erwartet, dass er in einem Rückfall plötzlich sterben könnte. Ratlos sind wir an seinem Sarg gestanden. Blumen, Kerzen mit persönlichen Abschiedsworten, als Zeichen, dass wir ihn in ehrendem Andenken behalten werden, als sensiblen, friedlichen Menschen, dem Freundschaft viel bedeutet hat. Das Zusammensein nach dem Begräbnis ist wichtig, das einander Beistehen in der Ratlosigkeit.
"Würden meine Worte doch geschrieben, würden sie doch in ein Buch eingeritzt, mit eisernem Griffel und mit Blei, für immer gehauen in den Fels" – so die Worte Ijobs (Ijob 19,23f). Leid und Trauer stürzen in Einsamkeit. Der Wunsch nach Gehör und Verständnis steht dem Gefühl gegenüber, mit dem Schmerz allein zu sein, gar kein volles Verständnis finden zu können. Das Schreiben ist ein Medium, dem unsäglichen, unaussprechlichen Schmerz sprachlich Raum zu geben. Die Worte des Buches Ijob sind tatsächlich für die Ewigkeit geschrieben, weil sie einen Sprachraum für Trauer und Leid geschaffen haben, der die Zeiten überdauert.
"Im Alltags kochenden Krater muss ich stark, fest und beseelt, mit Deinem Bilde, mein Vater, entgegen gehen der Welt." Diese Zeilen schrieb Leokadia Justman am 27. März 1945 auf die Rückseite eines Porträtfotos ihres Vaters Jakob, der ein Jahr zuvor im Lager Reichenau hier in Innsbruck ermordet worden war. In zwei Zeilen fasst Leokadia eine Dynamik zusammen, die tiefste Trauer beschreibt, und zugleich auch überwindet. "Im Alltags kochenden Krater": der Schmerz ist heiß, aufgewühlt, und führt an den Rand eines gähnenden, vulkanartigen Abgrunds. Würde sich Leokadia der Trauer passiv hingeben, könnte der Krater sie wie ein Nichts verschlingen und untergehen lassen. Dieser Gefahr setzt Leokadia eine starke Haltung entgegegen: "muss ich stark, fest und beseelt, mit Deinem Bilde, mein Vater, entgegen gehen der Welt." Das Bild des Vaters, ganz wörtlich, ein Foto von Jakob, am Herzen getragen, aber auch viel mehr – das Bild des Vaters, das Bild seiner starken Persönlichkeit, das in Leokadia zurückgeblieben ist – diese bleibende Gegenwart gibt ihr die Kraft, "stark, fest und beseelt" der Welt entgegenzugehen. Kürzer lässt sich kaum zusammenfassen, wie sie als junge Frau den Verlust ihrer liebsten Menschen in Lebensmut verwandelt hat.
Allerseelen ist ein wertvoller Tag, an dem wir uns Zeit gönnen können, zu spüren, welche Bilder unsere nächsten Verstorbenen in uns hinterlassen haben. Das Gesicht meines Bruders Stefan sehe ich mit einem sanften Lächeln, Wärme ist in seinen Augen. Ich höre die Stimme meines Vaters Dieter meinen Spitznamen sagen, den nur er für mich verwendet hat. Das uneingeschränkte Wohlwollen in seiner Stimme wird meine Seele für den Rest meines Lebens wärmen und mir das Gefühl geben, zuhause zu sein. Welche Bilder sehen Sie, welche Stimmen hören Sie von nahen Menschen, die diese Welt verlassen haben? Welche Bilder stärken, beseelen? Wenn wir uns heute Zeit für dieses ganz persönliche Totengedenken gönnen, finden wir bestimmt Edelsteine für die Schatzkiste unserer Seele.
Persönlich denken wir an die nächsten Menschen, die uns in eine andere Welt vorausgegangen sind. Als Kirche, als Gemeinschaft, denken wir an alle Menschen, die uns vorausgegangen sind – Allerseelen. Wir gedenken auch – und ganz besonders – der unzähligen Menschen, die einsam und qualvoll gestorben sind, ohne überlebende Angehörige, die ihrer gedenken würden. Diese Art des Gedenkens habe ich in den vergangenen Monaten sehr intensiv erlebt, im Rahmen unserer Arbeiten zu Leokadia Justmans Texten. Leokadia schreibt von vielen Menschen in Polen, denen sie im Lauf der Kriegsjahre begegnet ist, von denen die meisten nicht überlebt haben. Im Zuge unserer Nachforschungen tauchen diese Menschen dann in Dokumenten auf, auf Listen, in Adressbüchern, manchmal finden wir Fotos oder sogar persönliche Briefe von ihnen. Das ist jedes Mal eine sonderbare Erfahrung für mich. Leokadia erzählt etwa von Schmul Dawid Lewin, dem Geigenvirtuosen aus Łowicz, der mit ihrer ersten Liebe Ryszard Konzerte gibt, der dann im Warschauer Ghetto als Straßenmusiker versucht, Geld zum Überleben zu verdienen, der dort wahnsinnig wird, weil seine kleine Tochter nicht von ihren Besorgungen auf der anderen Seite der Mauer zurückkommt. Plötzlich haben wir Dawid Lewin auf einem Foto mit Frau und Kind im Łowiczer Gedenkbuch gefunden – da schaut er uns an wie aus einer anderen Welt.
Zum ersten Mal habe ich in diesem Sommer Majdanek, Sobibor und Treblinka besucht: Orte, wo Hunderttausende Menschen wie in einer großen Maschine ermordet wurden. An diesen Orten hatte ich den Eindruck, am Kraterrand zu stehen: Abgründe der europäischen Geschichte. Derzeit lese ich das Buch von Samuel Willenberg, der Treblinka überlebt hat. Er schreibt von einer jungen, schönen Frau, der er die Haare scheren musste, bevor sie ins Gas getrieben wurde. Sie fragte ihn, „Wie lange werde ich leiden müssen?" „Nur einige Augenblicke", antwortete Samuel. Sie weinten. Dann sagte sie ihm ihren Namen: Ruth Dorfmann. Nie hat er ihren Namen vergessen. Zum Ende seines Lebens schuf Samuel Willenberg Skulpturen seiner Erinnerungen an Treblinka, darunter eine Skulptur von Ruth Dorfmann. Das Gedenken der Toten ehrt, gibt Würde, gibt ihnen ihre Schönheit zurück.
Als Kirche sind wir berufen, eine heilsame Gemeinschaft des Gedenkens zu sein. Zum Fest Allerseelen gedenken wir aller Verstorbenen mit innigem Bewusstsein, besonders auch der Menschen, die in tiefstem Schmerz und in Erniedrigung, Entwürdigung sterben mussten. Jede Eucharistiefeier ist ein solcher Gedenkraum, ausdrücklich im Hochgebet: „Gedenke aller unserer Schwestern und Brüder, die entschlafen sind... Nimm sie und alle, die in deiner Gnade aus dieser Welt geschieden sind in dein Reich auf..." Die Worte Ijobs sind in Stein gemeißelt, sie klingen wieder in der Liturgie. Die Worte des Evangeliums ermutigen uns, gemeinsam zu trauern, in der Gemeinschaft mit Jesus. Die Worte von Leokadia Justman wenden Trauer in Lebensmut: "Im Alltags kochenden Krater muss ich stark, fest und beseelt, mit Deinem Bilde, mein Vater, entgegen gehen der Welt."
P. Dominik Markl SJ
Bild: Gaelle Marcel via unsplash.com